Walter Seitter | Die Mehrdeutigkeit der „Eindrücke“

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Christian Wachters Buch hat eine lange, eine fast hundertjährige Vorgeschichte. Es übernimmt nämlich seinen Titel fast exakt von einem Buch, das 1910 erschienen ist. Dessen Titel: Impressions d'Afrique; sein Autor: Raymond Roussel. Darin wird von einem Schiff berichtet, das von Marseille ausläuft und eine große Zahl von Passagieren, darunter viele Theaterspezialisten, nach Südamerika bringen soll. Es erleidet jedoch Schiffbruch an der Küste Westafrikas. Die Passagiere werden von einem dortigen König aufgenommen und müssen zur Verschönerung seiner Krönungsfeierlichkeit theaterartige Aufführungen beisteuern, deren unglaubliche Zauberkunststücke aufs Genaueste beschrieben werden. Sodass das Unmögliche wirklich wird. Auch die Vorgeschichte des afrikanischen Königreiches wird geschildert – wiederum mit allen sinnlichen Details. Die Europäer kehren wieder heim und mit ihnen kommen die „Eindrücke aus Afrika“ nach Europa, wo sie dann in Roussels Buch gedruckt erscheinen. Es handelt sich also um ganz zufällige Eindrücke und um extrem bizarre. Raymond Roussel ist immer wieder auf Afrika zurückgekommen. 1932 – kurz vor seinem Tod – veröffentlichte er das Buch Nouvelles Impressions d'Afrique, in dem der Afrika-Bezug nur ein paar berühmte Orte in Ägypten meint. Um dieselbe Zeit schrieb er eine Autobiographie, worin er das Konstruktionsprinzip einiger seiner poetischen Schriften offen legt: die Mehrdeutigkeit der Wörter, die den Raum für ganze Geschichten schafft. 1963 hat Michel Foucault in seinem Buch Raymond Roussel diese Zusammenhänge dargelegt.

Und nun legt Christian Wachter sein Buch vor, in welchem der gleiche Titel „Eindrücke aus Afrika“ seine Mehrdeutigkeit ausspielen darf. Das Buch enthält, neben wenigen Zeichnungen (die sich auf digitale Videos beziehen) fast ausschließlich „technische Bilder“ (klassische, analoge Fotografien und Standbilder aus digitalen Videos). Die eine Hälfte davon zeigt Aufnahmen aus Westafrika – Eindrücke im wörtlichsten Sinn: fotografische Lichteindrücke. Darunter solche vom bloßen Sand, in dem doch am meisten Licht und am meisten Farben strahlen. Andere Fotografien aus Afrika zeigen gegenwärtige Menschen in alltäglichen Lebenssituationen, nicht etwa in afrikanischer Folklore, sondern in mehr oder weniger europäischer oder okzidentaler oder vielmehr globaler Ausstattung und Umgebung. Viele der „technischen Bilder“ aus Afrika zeigen etwas ältere Aufnahmen von afrikanischen Artisten oder Akrobaten, die sich mit dieser Tätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Auch sie in „europäischer“ Aufmachung, mit europäischen Gerätschaften. Man sieht da, was ohnehin bekannt ist: dass Europa in Afrika „Eindruck“ gemacht hat und die Lebensweise der Leute weitgehend mitbestimmt. Ein jüngeres und besonders bombastisches Beispiel dafür ist die riesige Basilika, die am Rand einer Hauptstadt in den Sand gesetzt worden ist und den römischen Petersdom nachmachen will. Der Petersdom an der afrikanischen Elfenbeinküste – ein Schauspiel, das von Raymond Roussel erdacht sein könnte.

Auch diese Eindrücke aus Afrika wollen keinen umfassenden Bericht über den Kontinent liefern. Sie zeigen nur drei oder vier Facetten des gegenwärtigen Afrika. Es sind aber hauptsächlich Rückwirkungen aus Afrika, Reaktionen, die von Afrika nach Europa zurückwirken und insofern notwendige, unvermeidliche Konsequenzen einer langen Hin- und Her-Geschichte.

Die andere Hälfte der Fotografien von Christian Wachter – das sind Bilder aus Europa, hauptsächlich aus Wien. Indem sie in dieses Buch aufgenommen worden sind, sind sie in eine enge Nachbarschaft zu den Afrika-Bildern geraten. Aber vielleicht ist es nicht bloß eine nachträgliche Nähe. Vielleicht sind diese Bilder Reaktionen auf Eindrücke aus Afrika. Die Identität des Künstlers lässt das als wahrscheinlich annehmen. Außerdem spricht das Hauptmotiv dieser Europa-Bilder für diese Hypothese. Wie bei den Afrika-Bildern die Farbigkeit des bloßen Sandes ins Auge fällt, so bei den Europa-Bildern die Farbigkeit des Schwarz – des üppigen Schwarz der Fülle des Haares einer Europäerin. In diesem Schwarz scheint die gesamte Farbigkeit der Menschheit enthalten zu sein: das Schwarz und sein Gegenpol, der Silberglanz, und dazwischen alle sogenannten Farben, vor allem das Rot. Irgendwann dürfte sich, so meinen heute die Anthropologen, die Menschenfarbigkeit aus Afrika auf die anderen Kontinente ausgebreitet haben, dürfte von Afrika der erste „Menschendruck“ ausgegangen sein. Diesen Eindruck vermitteln diese Europa-Bilder.

Und die jüngste Etappe der Mehrdeutigkeit des Büchertitels ist diejenige, die den Schreiber dieser Zeilen zum Schreiben dieser Zeilen motiviert hat, welche ja ein Nachwort zu diesem Buch der Bilder darstellen. Von Afrika geht seit einiger Zeit ein neuartiger Eindruck, ein neuartiger Druck aus. Es ist der Druck, der jeden Tag in der Zeitung steht, wenn von Einwanderern aus Afrika die Rede ist, von Flüchtlingen, die in Malta oder Sizilien oder Fuerteventura anlanden oder auf offenem Meer Schiffbruch erleiden. Die neuartigen Eindrücke aus Afrika – das sind diese Menschen, das sind die Zeitungsberichte von politischen und ökonomischen Katastrophen. Die Problematik dieses Eindruckswesens ist vor kurzem von offizieller politischer Seite formuliert worden, als der deutsche Bundespräsident Afrika besucht hat und nach einem Gespräch mit Nelson Mandela gesagt hat, dieser habe ihn gebeten, „ein anderes Afrika nach Europa zu bringen“.

Was für ein Afrika? In was für ein Europa?

Aus | from: Christian Wachter, Impressions D'AFRIQUE, Fotohof edition, Salzburg 2007

 

Walter Seitter | The Equivocality of the “Impressions”

Christian Wachter's book has a long pre-history, one that goes back almost one hundred years. Indeed, its title is derived almost literally from a book published in I910. The title: Impressions d'Afrique; the author: Raymond Roussel. It tells the story of a ship that set sail from Marseilles, bound originally for South America, with a large number of passengers on board, many of them theatre professionals. The ship, however, ran aground off the West African coast. The passengers were received by the king of that land; to add panache to his coronation festivities, they were forced to contribute theatrical performances whose amazing conjuring tricks are described in the utmost detail — so much so that the impossible becomes real. The pre-history of the African kingdom is also described, again in meticulous sensual detail. Finally the Europeans returned home, bringing their “impressions of Africa” back with them to Europe, where they are imprinted in Roussel’s book. So these impressions are both entirely coincidental and extremely bizarre. Raymond Roussel returned to the subject of Africa time and time again. In 1932, shortly before his death, he published his Nouvelles Impressions d'Afrique; this time the connection with Africa refers only to a couple of famous locations in Egypt. Around the same time he wrote an autobiography in which he revealed the structural principle of some of his poetic writings: the equivocality of words that creates the space for entire stories. Michel Foucault examined those links in his book Raymond Roussel in I963.

Now Christian Wachter is publishing his book, in which the similar title Impressions from Africa plays on its equivocality. With the exception of a few drawings (which relate to digital videos) the book is made up almost exclusively of technische Bilder [literally: technical images] (traditional, analogue photographs and stills from digital videos). One half features photographs from West Africa, impressions in the most literal sense of photographic light impressions. Among them are photographs of bare sand which, paradoxically, radiates the most light and the most colours. Other photographs from Africa show people today in everyday situations, but not in a context of African folklore; rather, in a more or less European or Westernised or, better still, global setting and surroundings. Many of the “technical images” from Africa show somewhat more dated photographs of African artistes or acrobats earning a living with such activities. They, too, are “European” in appearance, with European accoutrements. We are shown what we know has already happened here: the fact that Europe has made an “impression” on Africa and largely determines the way in which people live. A more recent and particularly blatant example of this is the giant basilica erected in the sand on the outskirts of a capital in a bid to replicate St Peter’s Basilica in Rome. St Peter’s Basilica on Africa’s Ivory Coast — a scenario that could easily have been dreamt up by Raymond Roussel.

Again these impressions of Africa do not aim to provide a comprehensive report on the Continent. They depict merely three or four facets of contemporary Africa. And yet, essentially they represent repercussions from Africa, a retroactive effect from Africa back to Europe, and as such they are a necessary, unavoidable consequence of a long history of to-and-fro between the two continents.

The other half of the photographs by Christian Wachter comprises images from Europe, mainly from Vienna. Their inclusion in the book means they are closely juxtaposed with the Africa images. But perhaps that juxtaposition is not just proximity after the fact. Perhaps these images are reactions to impressions from Africa, and given the artist’s biography, that is quite probable. What’s more, the principal motif of these Europe images supports this assumption. Just as in the Africa images it was the colour of the bare sand that caught the eye, in the Europe images it’s the colour of the black — the luscious black of a European woman’s thick, dense hair. The black seems to contain all of humankind’s colour: the black and its opposite pole, the silvery sheen, and in between the entire spectrum of what we refer to as colours, red especially. Today anthropologists believe that at some point humankind’s colour must have spread from Africa to the other continents, that “humankind’s first impression” must have radiated from Africa. It is an impression conveyed by these Europe images.

And the latest phase in the equivocality of the book’s title is the one which has motivated the author of these lines to pen these lines, which is after all an epilogue to this book of images. For some time now a new kind of impression, a new kind of pressure has been emanating from Africa. It’s the pressure we read about daily in the press when it reports on immigrants from Africa, refugees who come ashore in Malta or Sicily or Fuerteventura, or are shipwrecked in the open seas. These people, these press reports of political and economic catastrophes are the new impressions from Africa. The problems raised by such impressions were recently couched in official political terms when Germany’s federal president visited Africa; after talks with Nelson Mandela, the president said that Mandela had asked him to “take a different kind of Africa back to Europe”.

What kind of Africa? Back to what kind of Europe?

(Translation: Stephen Grynwasser)